Warum ich nicht sage, was ich schmecke

Ich erlebe es immer wieder bei Verkostungen, dass mein Gegenüber davor zurückschreckt, frei zu beschreiben, was sie/er schmeckt.

Anstatt den Geschmack zu nennen, höre ich: „ich kann das nicht so gut beschreiben.“ Und obwohl ich mich seit 2013 beruflich mit dem Probieren von Lebensmitteln beschäftige, ertappe ich mich selbst dabei, dass auch ich in bestimmten Situationen zu eingeschüchtert bin, einfach zu sagen, was ich schmecke. Dies trifft besonders bei Weinverkostungen zu. Gerade neulich war ich in Gegenwart eines österreichischen Weinproduzenten und eines Sommeliers sehr unsicher, ob ich den verkosteten Wein wohl „korrekt“ beschreiben würde.

Woher kommt  diese Unsicherheit, einfach zu sagen, was man schmeckt?

Geschmack ist etwas zutiefst Subjektives. Kein anderer Mensch kann ihn nachvollziehen und ihn als richtig oder falsch einstufen. Denn Geschmack ist nicht im Lebensmittel, sondern entsteht in unserem Kopf aus einer Vielzahl von Komponenten (neben physisch-chemischen Eigenschaften, die wir mit unseren Sinnen wir Geruch, Geschmack, Hören, Tasten oder Sehen spielen auch kulturelle, biografische oder psychologische Prägungen eine Rolle).

Trotzdem fühlen sich viele in einer Art Testsituation, in der auch sie - dem Sommelier gleich - „den grünen Apfel“, „die Nuancen von Tabaknoten“ oder „die morgendliche Frühlingswiese“ erschmecken und benennen müssten.

Bei der Suche nach einer Erklärung für dieses Dilemma bin ich über einen wunderbaren Artikel aus dem New Yorker Magazin gestolpert („Is there a better way to talk about wine“), in dem die Autorin Bianca Bosker die Entwicklung und den derzeitigen Stand in der Welt der Weinkritiken und –beschreibungen erklärt. Der Artikel gibt eine Reihe von Antworten auf meine Fragen, weshalb ich mich in diesem Blogeintrag immer wieder auf den Artikel beziehe. 

So habe ich drei Gründe zusammengetragen, die meiner Meinung nach ausschlaggebend dafür sind, warum Menschen davor zurückschrecken, den Geschmack von Lebensmitteln zu beschreiben:

1. Die Sprache der Experten ist zu komplex und elaboriert geworden

Bianca Bosker beginnt den Artikel mit der Gegenüberstellung zweier Beschreibungen eines Weinkritikers über einen Château Haut-Brion. Die Beschreibung aus dem Jahre 1992 ist kurz und kompakt („Groß und fleischig, mit viel Frucht, voller Tannine mit einem fruchtigen, seidigen Finish.“). Im Jahre 2009 benutzt der gleiche Kritiker sieben Sätze, um den gleichen Wein zu beschreiben. Es werden dabei Vergleiche zu Zigaretten, Saunas und Gebäck gezogen.

Diese Komplexität ist nicht nur auf Wein begrenzt. Auch Produzenten von (meist hochwertigen) Kaffees, Tees, Schokoladen und so weiter benutzen oft lange, ausschweifende Beschreibungen, um ihre Produkte zu präsentieren. Oft scheint es, dass die Produzenten denken, die Länge der Beschreibung müsse proportional mit den höheren Preisen und der höheren Qualität wachsen. Je teurer und besser das Produkt desto mehr Wörter benötigt die Beschreibung.

Die elaborierten, oft ausufernden Ausführungen überfordern allerdings die meisten Konsumenten. Wenn ein Kritiker sieben Sätze zu einem Wein schreibt, dann traut sich der normale Weintrinker sicher nicht, in ein bis zwei einfachen Begriffen zu erklären, was er in seinem Mund spürt. Leicht stellt sich das Gefühl ein, nicht den Ansprüchen einer „richtigen Beschreibung“ zu genügen, da man nicht so bildlich und so weit ausholend über Saunas, Zigarrenboxen und nasses Pferdehaar sprechen kann.


2. Wettbewerbe, Experten und Kritiker suggerieren, dass Geschmack objektiv ist

Der zweite Grund ist eng mit dem ersten verknüpft. Weinkritiken von Experten werden von Konsumenten oft als objektiv wahrgenommen. Man glaubt der angeblichen Autorität auf dem Gebiet. Diese angebliche Objektivität wird durch Wettbewerbe, Auszeichnungen und Rankings, bei denen Punkte für Geschmack vergeben werden, weiter befeuert. Klar, der Konsument möchte beim Überangebot Orientierung erhalten, allerdings wird suggeriert, dass die Orientierungshilfe von vermeintlichen Experten wie der Parker-Liste, dem Feinschmecker-Olivenöltest und anderen "die Wahrheit" ist; frei nach dem Motto: „Wenn die den Wein so bewerten und so beschreiben, dann muss es richtig sein.“


3. Fehlende Erfahrung, den eigenen Geschmack zu bilden und ihm zu trauen

Der Olivenölproduzent und Herausgeber der Zeitschrift Merum, Andreas März, hat mir während meines Besuchs in seiner Olivenmühle in der Toskana etwas sehr Passendes gesagt:

„Wenn du Olivenöl richtig kennenlernen willst, dann musst du dich bemühen. Du musst Öle kaufen, etwas lesen, hier mal verkosten oder dort mal verkosten und Produzenten besuchen. Natürlich dauert es. Aber ich trinke seit 40 oder 50 Jahren Wein, um jetzt meinen Geschmack zu kennen. Und beim Öl ist es genau das Gleiche. Natürlich kannst du einen Ölführer kaufen, aber dann bist du erst mal ein Etikettenkonsument. Ich will aber zuverlässig etwas Gutes. Und wer sagt mir das? Meine Nase sagt mir das. Sie sagt mir zuverlässig, was mir schmeckt und was gut für mich ist.”

Da wir die komplexen Aromen in Lebensmitteln nasal (bzw. retronasal) aufnehmen und im Gehirn bewerten und zuordnen, bedarf es eines Erfahrungsschatzes. Denn die Geschmacksknospen im Mund (vor allem auf der Zunge) können nur fünf Geschmacksrichtungen erkennen: sauer, salzig, bitter, süß und umami (herzhaft, fleischig). Alle weiteren Aromen werden über den Geruchssinn erkannt. Die Aromen werden ans Gehirn geschickt, welches versucht, diese zuzuordnen. Das Gehirn greift dabei auf Bekanntes zurück, weshalb wir sagen: „Es schmeckt wie...“. Nur wenn man ein bestimmtes Aroma schon einmal gerochen hat, kann das Gehirn die Zuordnung herstellen. Schwierig kann es sein, wenn das Gehirn das Signal eines Aromas bekommt, aber der visuelle Eindruck nicht mit der Erinnerung zusammenpasst. Wenn wir z. B. Kaffee trinken und das Aromensignal „Kirsche“ im Gehirn ankommt, kann es überfordert sein, die Zuordnung herzustellen, da das Gehirn dieses Aroma bisher immer mit roten, runden Früchten verbunden hat und nicht mit einem braunen, heißen Getränk.

Deshalb ist es ganz normal, dass man viele Assoziationen von Sommeliers nicht teilen kann. Dies liegt nicht am Können, sondern einfach daran, dass das Gehirn die notwendigen Verbindungen (Synapsen) noch nicht geformt hat.


Was also tun?

1. Erkennen, dass jede Verkostung individuell und subjektiv ist: Die Wahrnehmung des Geschmacks beruht neben den eigenen Erfahrungen auch darauf, wo ich mich befinde (trinke ich eine Flasche Rotwein an einem italienischen Strand oder in einer deutschen Großstadt), was ich vorher gegessen habe und wie meine Gemütslage in dem Moment ist. All dies beeinflusst unseren Geschmack.

2. Üben - Immer wieder probieren und das Gehirn trainieren: Wenn ich Schwierigkeiten bei der Zuordnung habe, versuche ich zuerst in großen Kategorien zu denken. Erkenne ich Aromen, die mich an Früchte, Gewürze, Kräuter oder Gemüse erinnern? Bei der gemeinsamen Verkostung tausche ich mich gern mit anderen aus. Schmecken sie das Gleiche oder vielleicht etwas ganz Anderes? – Denn schließlich gibt es keine falsche Beschreibung!

3. Spaß haben an den Beschreibungen von Experten: Anstatt die Aussagen als Wahrheit zu akzeptieren, sollte man sie als Anregungen nehmen. Es gibt zudem Kritiker oder Journalisten, die eine wunderbare Sprache für die Beschreibung eines Lebensmittels haben. Bianca Bosker zitiert am Ende ihres Artikels den Sommelier Geoff Kruth, der sagt:  „At the end of the day, we’re selling poetry.“ Und so sollte man es auch nehmen: Kritiker wollen auch Poeten sein! Denn über Geschmack lässt sich vielleicht nicht streiten, aber wunderbar reden und philosophieren.

 

In diesem Sinne, bleiben Sie neugierig!

Ihr
Jörn Gutowski
Gründer, TRY FOODS